Die andere Seite des Berges

Die andere Seite des Berges


Eine Familiengeschichte verwoben mit der Geschichte der Türkei und auch mit der Weltgeschichte bildet den Rahmen des Romans – und genügend Reflexionsfläche für Kritik, sowohl an den Familienmitgliedern als auch an den Akteuren der Weltgeschichte.
Die analytische Annäherung an die Familienmitglieder, an die Großeltern, Eltern und Onkeln, verleiht den Ereignissen eine philosophische Dimension. Die Einbindung in das Weltgeschehen macht den Roman politisch. Ein Ausschnitt aus dem Vorwort lässt die Intentionen der Autorin nachvollziehen:
“Es gibt in diesem Buch etliche Briefe. Bevor ich zu schreiben begonnen habe und ehe ich wusste, dass ich ein solches Buch schreiben würde, hatte ich Hunderte von Briefen gelesen. Meine Mutter hat nicht nur mit meinem Vater Briefe gewechselt, sondern auch mit ihren Brüdern sowie mit Freunden aus dem In- und Ausland. Diese Briefe haben mir geholfen, den Geist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachzuvollziehen und zu verstehen. Über die künstlerische Form dieses Buchs habe ich mir viele Gedanken gemacht. Für mich war die Form an sich allerdings niemals von großer Bedeutung – auch diesmal war es so. Wenn Form und Inhalt eine Ganzheit bilden, ist die Aussage wichtiger und wirksamer, glaube ich. Wenn man das, was man vermitteln möchte, in ästhetisch adäquater Art und Weise tut, hat es einen Sinn. Ich glaube, der Gegenstand selbst hat mich zu der gewählten Form geführt. Bei der Vermittlung der Welt der vier Geschwister, vor allem der sie verbindenden, doch immer schlaffer werdenden Geschwisterliebe, hat sich diese Liebe und diese Beziehung mit der Zeit – zumindest aus der Sicht von Vicdan – immer mehr verklärt. Aber die Beziehung riss nicht ab. Diese lockere, doch unzerreißbare Naht ihrer Welt erschien mir passend für die Konstruktion, für die Zusammenfügung jener Erzählungen, durch die sie aufgezeigt werden sollten. (…)
Sie könnten mich fragen, warum ich den „Zeitgeist“ wiederzugeben versucht habe. Ich würde darauf antworten, dass Sprache und Gedanken, Sprache und Gefühle, Wesen und Form untrennbar sind. Sprechen, erst recht Schreiben, dienen nicht einfach nur zur Kommunikation mit unserem Gegenüber, die Worte erreichen ständig unser Bewusstsein und Unterbewusstsein und dieser fließende Reiz ist gleichzeitig eine Kommunikation mit unserem Innerem, mit uns selbst. Diese Kommunikation kann ausreichend sein oder auch nicht, doch meistens hat sie mehr als nur ein Gesicht. Wenn man ehrlich ist, kann sie eine innere Bestandsaufnahme sein. Wenn man sie als Erklärung benutzt, kann sie etwas verbergen, doch beim Verheimlichen kann sie sogar verräterisch sein… Wenn sie aufgebauscht wird oder amtlich, kann sie dennoch sehr redlich und unmittelbar sein. Worte sind der Kanal, durch den die Gefühle und Gedanken fließen. Wenn man diesen Kanal verändert, verletzt man die Gedanken und Gefühle. Aus diesem Grunde habe ich versucht, die Sprache der Briefe, der Dialoge und der inneren Monologe der Zeit ihrer Entstehung anzupassen. Das war für die türkische Sprache sehr wichtig, denn sie hat sich im Laufe eines Jahrhunderts radikal verändert. […]