DAS LETZTE JAHRZEHNT DER NAIVITÄT

DAS LETZTE JAHRZEHNT DER NAIVITÄT
Eine Erzählung von
ERENDIZ ATASÜ
Übersetzt von Beatrix Caner

Sie glich der orangenen Abendsonne, oder einem reifen, rosaroten Pfirsich. Sie war sicher über Fünfzig und eine sehr schöne Frau. Sie erzählte mir von Ihrer Jugend, sprach viel. Ich hörte ihr kaum zu. Mein Bewusstsein glitt ohne Hast, ruhig dahin, wie die von der Abendsonne liebkoste Steppe. Erinnerungen und Träume stiegen auf und versanken erneut in ihm. Ihre Stimme klang wie aus weiter Ferne. Ich betrachtete ihr rotes Haar, ihre honigfarbenen Augen und ihr, um wie ungeschminkt zu wirken, für die Reise mit besonderer Sorgfalt aufgetragenes rosa Make-up. Wer weiß, wie viel Zeit es in Anspruch nahm, sich so zu schminken, dass es wie ungeschminkt aussah. Sie saß mir im Zugrestaurant genau gegenüber. Sie war das erste Exemplar einer großbürgerlichen Frau, die ich je zu Gesicht bekam…

Von ihr hörte ich zum erstenmal, dass die fünfziger Jahre schön gewesen sind.

»Es war die schönste Zeit der Türkei« sagte sie, »Woher aber sollten Sie jene Bälle in Ankara denn auch kennen… Damals waren Sie noch ein Kind. Welch ein Reichtum, welch ein Pomp… Die Abendkleider aus drapiertem Satin, mit großem Ausschnitt, der die Schulter freiließ…«

Wer weiß wie schön ihre Schulter war, vor dreißig Jahren…

»Christian Dior kennen Sie natürlich. Wir trugen seine Modelle. Ach, nach dem Krieg wurde die Welt vom Neuen erschaffen. Und all die Rumbas, Sambas, Tschatschatschas, die Tangos… Und wir trugen nicht zweimal dasselbe Kleid. Artisten und Stripteasetänzerinnen traten auf. Ach, wie wir unsere Männer doch beneideten. Es gab die herrlichsten Liebesaffären, wenn Sie nur wüssten…«

Sie zwinkerte mir kess zu.

»Die Tänze waren elektrisiert vor sehnsüchtiger Liebe. «

Ein schöner Satz, dachte ich mir.

»Sie kennen jene Tänze nicht, woher sollten Sie auch. «

Es gefiel mir, dass sie mich wie ein Kind behandelte. Alle bürdeten mir nur Verantwortung auf. Ich begann sie zu mögen.

»Ja, ich kenne sie nicht«, sagte ich, »meine Generation hatte kaum die Zeit zum Tanzen. «

»Schade, sehr schade. Wissen Sie, es gab das Orchester Xavier Cugat. Oder Dario Moreno… Kennen Sie ihn auch nicht? «

Natürlich, so war die Generation meiner Eltern, sie tanzten auf den Bällen zu Ehren der Republik Walzer. Gütiger Himmel… Kannst du die alten Provinzkemalisten zwischen all den Bildern aus der Vergangenheit erkennen, wie sie zu Ehren der Heimat, ohne ein Wort der Klage, ihre Füße in engen, drückenden Schuhe gepresst, in den ungewohnten Fracks schweißgebadet Walzer tanzen? Von der Warte der 80-er Jahre zurückgeblickt wirken sie nur noch lächerlich…

(Meinst du nicht, dass es rührend ist, wie sie sogar das Vergnügen ernst nahmen? Genau wie ihr… Aber die Ähnlichkeit merkst du nicht, nicht wahr?)

»Lateinamerikanische Musik war sehr modisch. Urlaub zu machen kam ebenfalls in diesen Jahren auf. Alles hat uns die Demokratische Partei gelehrt. Mit dem Strick hat man es ihnen gedankt, undankbares Volk, was erwartet man denn auch…«

Wenn ich sie ernst genommen hätte, hätte mich das geärgert. Aber ich amüsierte mich. Sie war wie ein naives Kind, wollte ein viel zu großes Spielzeug.

(Die Geschichte ist ein sehr gefährliches Spielzeug… Hättest du dich von der typischen Hochmut deiner Generation befreit, würdest du gleich erkennen, dass deine Freundlichkeit ihr gegenüber lediglich Ausdruck eines unstillbaren Minderwertigkeitsgefühls der Unterschicht darstellt.)

»Ach, was sagte ich gerade. Im Sommer bräunten wir an den Stränden, damit wir im Winter gut aussahen… Die tief ausgeschnittenen Abendkleider sehen zu gebräunter Haut sehr gut aus. «

Woher hattet ihr nur in jenen 50-er Jahren die gutgeheizten Ballsäle? Ja, in jenen Jahren war ich ein Kind. Die 50-er sind für mich ein kalter, grauer Korridor, der ins Frühjahr meiner Jugendjahre, in die 60-er führt. In meiner Erinnerung kommen kniehoher Schnee und kalte Schulgebäude vor, und Koksgestank, und nur in Ofennähe konnte man sich ein wenig wärmen…

Meine Kindheitseindrücke stehen im krassen Widerspruch zu den Ansichten meiner Eltern und meiner späteren Freunde…

(Selbstverständlich, oder nicht?)

Für uns sind die 50-er Jahre eine dunkle Phase, die Zeit als die Türkei ihre Unabhängigkeit zu verlieren begann, als der Kulturverfall anfing, das Ungeheuer der Slumbildung über uns kam… Den, der die 50-er schön nennt, weise ich in seine Schranken. Aber nein, Sie habe ich liebgewonnen. Sie amüsieren mich.

»Ach ja, ich tanzte mit meinen Mann die lateinamerikanischen Tänze sehr gut. Der Mann, der Sie zum Zug begleitet hat, war Ihr Man, nicht wahr? «

»Ja, er ist mein Partner. «

»Ach, ich wusste es, es war Ihr Mann. Sie sind jung verheiratet, hab´ich gleich bemerkt. «

»Nicht sehr lange. «

»Nur die jungverheirateten umarmen sich so fest. «

Ich mag nicht über mein Privatleben reden. Kehren wir lieber zu den 50-ern zurück.

»Haben Sie Kinder? «

»Ja.«

»Ach, wie süß. Wie viele?«

»Eins.«

»Wunderbar. Gebären Sie bloß keine weiteren. Geburten machen eine schlechte Figur. Zu unserer Zeit gab es nur unhandliche Präservative. Jetzt steht uns von allem das Beste zur Verfügung. Auch die Präservative sind fein geworden. Sogar die haben Sex-Appeal. «

Sie lachte.

»Zu meiner Zeit sagte man Sex-Appeal. Kennen Sie dieses Wort? «

(Sex Appeal – in den 50-er entdeckt der Westen vom neuen die Geschlechtlichkeit.)

»Junge oder Mädchen?«

»Mädchen.«

»Das ist schön. Ich habe eine Tochter und einen Sohn. Eins müssen sie noch gebären. Zwei Kinder reichen. Aber stillen Sie nicht zuviel, das verdirbt nur den Busen. Spritzen Sie viel kaltes Wasser an den Busen, das hält sie elastisch. Wie alt ist es? «

»Wer ist wie alt? «

»Na ihre Tochter, wer wohl?«

»Eins.«

»Ach wie wunderbar, jung verheiratet zu sein. Wissen Sie, ich habe Enkelkinder. «

»Wirklich?«

»Aber wirklich. Täuschen Sie sich nicht durch mein junges Aussehen. Sie leben nicht hier. Mein Sohn ist Lehrkraft in Amerika, an der Universität. Meine Tochter lebt in Saudi Arabien, mein Schwiegersohn ist Außenhandelskaufmann. Zufall eben, sie haben einen schlechten Platz erwischt. Was macht ihr Mann? «

»Mein Mann ist Arzt. «

»Sie arbeiten natürlich nicht, erziehen das Kind. «

»Nein, ich übe die gleiche Arbeit aus wie Ihr Sohn. «

»Wie, das habe ich nicht verstanden? «

»Ich bin Lehrkraft an der Universität. «

»Sie? Das glaube ich aber wirklich nicht; so jung und schön. Aa, ich will Ihnen etwas empfehlen. Ihre Haut ist makellos, aber, wie alt sind Sie, dreißig und ein paar, sehen Sie, ich wusste es. Gegen Fünfunddreißig braucht die Haut Pflege. Gurken, Petersilie…«

Die 50-er Jahre füllen meine Gedanken… Koksberge über dem weißen Schnee gestapelt. Die kohleschleppenden Jungs, deren Füße in den durchlöcherten Strümpfen fast nackt sind, ihre Schuhe zerschlissen, die unter der Last der Körbe sich winden… Ich erinnere mich an meinen Großvater, in einem Schwarzmeerdorf, meinen Großvater, der Schuster war und dessen Gesicht von Jahr zu Jahr trauriger wurde, seit es die Schuhfabriken gab und die Arbeit immer weniger. Die Massen, die das hintere Unterdeck der nach Istanbul fahrenden Schiffe füllten, den Platz mit den Arbeitern und den Schafen teilten. Linde? Wo kommt das denn jetzt her?

»… eine der besten Erfrischungen liefert die frisch gebrühte Linde. Die Linde kennen Sie natürlich. «

»Das ist meine Arbeit. Medizinische Pflanzen.«

»Ja, was sagte ich. Ja, die Blüten der frischen Linde, die Blätter auch natürlich, legen Sie in heißes Wasser. Wenn es rosarot geworden ist, sieben sie es ab, lassen etwas erkalten, es kann auch leicht lauwarm sein, dann wischen sie Ihr Gesicht mit einem getränkten Wattebausch ab. «

»Ich habe keine Zeit« sagte ich und spürte meinen Überdruss, »morgens komme gerade so rechtzeitig zu Uni. «

»Wirklich, wieso reisen Sie alleine? «

»Ich bin beruflich unterwegs. «

»Ach, ich liebe Izmir sehr. Auch ich reise allein; weil mein Mann so beschäftigt ist, und ich habe mich sehr gelangweilt. Langweilen Sie sich auch? «

»Nein, im Gegenteil, ich erhole mich. «

»Ach, wie lustig Izmir vor dreißig Jahren war… Natürlich wohnen Sie am Kordon. «

»Ich glaube nicht. Die Universität hat mir ein Zimmer im Gästehaus reserviert. «

»Der Kordon war früher wie ein Schmuckstück. Aber jetzt ist dieses ekelhafte Gestank…«

»Das Ergebnis verfehlter Industrialisierung.«

»Was sagten Sie? Ja, ja, nachts glänzte es wie ein Diamant im Samtetui. «

Der Vergleich war nicht schlecht.

»Lieben Sie Schmuck? «

»Ich trage kaum welchen. «

»Sie müssen es. Ihnen steht es, Ihr Hals ist sehr schön. «

Ich will keinen Schmuck. Ich will nur ein wenig Ruhe; ein wenig Liebe, ein wenig verwöhnt werden, ein wenig Zeit zum Bücherlesen. Die 50-er Jahre kommen mir in den Sinn. Wie ich, auf dem Weg in die 60-ern, in den Sommerferien zusammen mit den Eltern, die Bibliotheken entdeckte. Feride aus dem “Zaunkönig”, kokett und gefühlvoll!… Rabia aus “Sineklibakkal”, mit honigfarbenen Augen, religiös, ernst. Jene gezierte Handan, die mondäne Züleyha aus “Alte Krankheit”. Die Geschwister meiner geschwisterlosen Kindheit..

Dann, die weißgebundenen, ernstwirkenden Bücherreihen, in den 40-er Jahren im Auftrag des Erziehungsministeriums übersetzten Klassiker der Weltliteratur, die dann in den 50-ern vom Kultusministerium hinausgezögert wurden, bis sie dann schließlich ganz verschwanden. Die Freunde aus den letzten Jahren meiner Kindheit und den ersten Jahren meiner Jugend… Die Julia im zarten Alter, die auf dem Balkon in Verona auf ihren Romeo wartet, Maria Stuart, wie sie zukunftsberaubt dahinschreitet in ihrer flammenden Kleidung, auf ihren Henker zu, der ihren Kopf abschlagen wird, rebellisch bis zum Schluss und unbesiegbar… Lady Macbeth windet sich in der Pein ihres Gewissens. Eugenie Grandet wartet hoffnungslos, in sich gekehrt, traurig und doch vergebens, in ihrem Haus in der Provinzstadt. Die kesse Natascha kann sich nicht entscheiden zwischen Pierre und dem Prinzen Andrej. Madame Bovary nimmt sich in der öden Provinzstadt das Leben. Sonja begeht aus Leidenschaft zu “Bestrafung” eine “Sünde”. Nora schließt die Tür hinter sich und bricht auf in die Freiheit, lediglich meine Jungmädchenhaftigkeit bleibt verwundert, traurig und hoffnungsvoll zurück.

»Wenn ich nur lernen könnte, mich allein nicht zu langweilen. Wie schön, man sieht, dass es ihnen Spaß macht. Ja wirklich, was werden Sie tun in Izmir? «

Ich werde mich erholen. Vom Weinen meines Kindes, von den schriftlichen Auswertungen, von der Bedienung der Freunde meines Mannes, von den Nachrichten über die manchmal tödlich endenden Anschläge auf Freunde, ich habe es satt ständig in der Angst zu leben, ermordet zu werden. In Ankara werden Leute umgebracht, wissen Sie das… Es sind politische Morde. Izmir ist ruhiger, dort werde ich meine Nerven einige Tage lang pflegen.

»Ein Arbeitsbesuch, sagte ich. Hoffentlich ist in Izmir die politische Lage ruhiger. In Ankara erreicht der Terror den Höhepunkt, Sie merken das sicher. «

»Ach ja, wie schrecklich, nicht wahr. Mein Mann schickt mich deshalb nach Izmir. Ja, meine Liebe, ich sagte ja Ihnen, das ist ein undankbares Volk, nicht wahr; sie haben die Leutchen aufgehängt, und dann kam es so. Ich habe meinen Bruder nicht benachrichtigt über mein Kommen, er wird morgen früh erstaunt sein, wenn er mich vor der Tür sieht. «

Sie freute sich wie ein Kind, wie ein naives Kind.

»Nein, meine Teuere, nein, aus diesem Volk wird nie was. Schauen sie mal auf diesen fruchtbaren Boden, auf dieses paradiesische Land. «

Ihre Kindlichkeit verschwand. (Sie wiederholte die Sätze ihres Mannes.) Sie zeigte mit der Hand auf die Landschaft.

»Dieser fruchtbare Boden wird verlassen, und los geht es in die Stadt. Ab nach Ankara, Istanbul. Das geht nicht, meine Teure, es fehlt an Arbeit, es fehlt an Macht, an Geld. Was bringt das, natürlich wird dann gemordet. «

Nein, in Izmir wird nicht gemordet. Die Stadt ist dort in einer Hand, in der der “unseren”. Dort ist es ruhig, hoffe ich. Was aber wenn nicht…

Vor dem Fenster zog die Landschaft vorbei, eingehüllt in den Frühling und in die untergehende Sonne. Was habe ich in diesem absurden Zug, der von einer mordenden Stadt zur anderen eilt, in diesem sinnlosen Gespräch zu suchen? Ich fühlte mich nicht wohl. Mein Bewusstsein war gespalten, ein Reisender der den anderen Reisenden beobachtet, sich an ihn erinnert. Ich mochte diesen Raum und diese zeit nicht.

Ich hätte am Anfang des Jahrhunderts, in Wien leben sollen; ich wünschte, Patientin von Freud gewesen zu sein… Ich wollte auf den Opernbällen, auf den Bällen der Armee des Kaiserreiches mit einem jungen Leutnant tanzen. Mich berauscht drehen, zum Walzer von Strauß. Ich würde in den Leutnant verliebt gewesen sein, mein Verlobter wäre im Ersten Weltkrieg gefallen, ich würde geweint haben.

Oder, in den 20-er Jahre, in Paris, hätte ich Bilder gemalt haben. In dem Café unter dem Haus, hätte sich Hemingway mit seiner Frau gestritten und sie mit einer anderen Schönen betrogen. Picasso hätte sich bunte Matrosenanzüge angezogen, deftig geflucht, während er durch meine nach Crepes und Wein duftende Straße ginge. Ich hätte zart und frei sein mögen, wie Hake Asaf, mein verletztes Herz verbergend.

Aber ich bin hier, während die Knochen meiner Ahnen in der Erde der Steppe dahinsiechen, heult eine Volksweise in mir.

(Anachronismus… Der Schauspieler, der auf der Bühne sich inmitten einer Farce sich dessen besinnt, kann nicht weiterspielen. Ein guter Spieler ist sich bewusst, dass er eine Farce spielt, allerdings vergisst er mit einem anderen Bewusstsein der Gleichzeitigkeit sein Wissen darüber. Dann schaut er zurück und sagt, ich hatte eine Rolle in einer Farce.

Das Spiel setzt sich im doppelten Bewusstsein fort, aber das eine ist dominierend. In den Augenblicken, als beide gleichzeitig zur Geltung gelangen, erlebt man entweder eine Blendung oder Kreativität. Du dagegen, hast beides nicht erlebt. Du fügst deine späteren Gefühle den früheren nicht zu. In jenen Jahren warst du eine beschützte Hausfrau, in Nebenbeschäftigung Lehrhaft an der Uni. Zu jener Zeit träumtest nicht von Wien und Paris. Höchstens hast du von einer Tasse Kaffe an einem Strand, der nicht heimgesucht war vom Tod, inmitten von jenem blutigen Groteske, das das Leben gerade spielte.)

»In Izmir gibt es Küstencafes, sagte plötzlich meine Stimme, dort frühstückten wir in den 70-er Jahren mit Freunden. Ob es sie noch gibt, oder sind sie abgerissen? «

»Ich weiß nicht, sagten Sie, zeigten Interesse. Ich vergaß, dass Sie bescheidene Cafés meiden. Verzeihung. Reden Sie nur weiter.

»Entwicklung«, sagten Sie, »das Alte wird abgerissen, Neues wird errichtet. «

»Ihr Mann ist Bauunternehmer? « rutschte mir die Frage heraus.

»Woher wissen sie das? «

Sie staunte nicht schlecht. Ihre honigfarbenen Augen waren aufrichtig. Das Staunen machte sie freudig. ich lachte:

»Nichts, sagte ich, ich habe es so erahnt. «

»Was sagten Sie? «

»Eine Ahnung, ein Annahme, sagte ich, ich habe es angenommen.

Sie dagegen konnten es nicht erahnen. Dass ich und mein Mann vor der Scheidung stehen, die Szene am Bahnhof war nur auf Diät gesetzte gegenseitige Quälerei, wie das purpurne Licht, das nach dem Sonnenuntergang unserer Gefühle den Horizont der Steppe umrahmt… Schade… Ich an Ihrer Stelle hätte es angenommen.

Ich kratze an dem Schein des Sichtbaren, mit den Spitzen meiner rosalackierten Nägel. Dann zerreißt der Vorhang über das Leben, das immer aus Szenen und ausschließlich nur daraus konstruiert wurde. Der Vorhang der Naivität war lediglich ein dünnes und reichlich gelöchertes Phantombild. Den Lack und den Vorhang schützen Sie, und sie stehen unter der Wirkung eines gespaltenen Bewusstseins, dass die Sünden vergessen, und dann auch das Vergessen vergessen lassen wird.

»Bauunternehmer brauchen Arbeiter. Warum sind Sie den Menschen, die aus den Dörfern abwandern, die meisten sind ungelernte Arbeiter, sie arbeiten an Baustellen. Außerdem, hat die Abwanderung aus den Dörfern in den 50-er Jahren angefangen? «

»Sie arbeiten auf den Baustellen? Dass ich nicht lache. Sie verkaufen Sesambrezeln, Wasser, sind fliegende Händler, Hausmeister, sie sind Gauner und Faulenzer. Niemand hat ihnen gesagt, dass sie ihre Dörfer verlassen sollen…«

Ihre honigfarbenen Augen schauten naiv, erstaunt.

»Und wer arbeitet auf den Baustellen? « setze ich fort.

»Meine Liebe, woher soll ich das wissen? Nicht alle aus den Dörfern können wohl Baumeister sein. «

Sie hatten Recht. Sagten sie “Baumeister”? Also sie kennen auch neue Wörter, oder hatten Sie etwa Ibsens Stück in der Übersetzung gelesen? Es erschien in jenen weißkartonierten Klassikerreihen. Aber was rede ich. Unsinn ist das.

»Aber zwischen dem Rückgang der Landwirtschaft und der Abwanderung bestehen Tausende von Zusammenhänge, sagte ich. «

»Ja, ist das wahr? « sagten Sie, »Wer weiß…«

Sie taten, als hätten sie etwas Neues und Wichtiges eben erfahren. Wenn es hart auf hart kommt, sagen Sie einfach »woher soll ich das wissen«… Wussten Sie es wirklich nicht? Konnten Sie so naiv sein?

Wo ich sie im Spektrum der Frau unterbringen soll, weiß ich nicht. Wenn sie mich fragen, waren sie ein dummer Mensch. Oh, natürlich, ich hätte Sie niemals aus dem Frauendasein ausgeschlossen. Natürlich waren sie von Ihrem Mann abhängig, urteilten mit seinem Maß. Ihre Existenz hing von Ihrer fortgesetzten Naivität ab. Sonst wäre Ihr Dasein, das auf winzige Aufregungen und Hautpflege gebaut war, zu Ende. Hätten Sie unter anderen Bedingungen vom Neuen existieren können? Natürlich waren Sie ein Opfer der Männerwelt. (Wieder Anachronismus. Im Frühjahr 80 warst du keine Feministin. Du dachtest nicht einmal an eine solche Möglichkeit, die als Verrat am Sozialismus galt. Du stecktest bis zum Hals im Frauenschicksal, und du wolltest das nicht wahrhaben, die Jungmädchenträume passten bestens in de Gedanken deiner revolutionären Freunde und zur unbeirrbaren, wegweisenden Erkenntnis “unseres Volkes”… Du solltest eine treue Partnerin und Mutter sein. Du hast deine Augen fest zugedrückt, um den Dreck des Morastes nicht zu sehen; du hattest Sterbensangst deine Naivität zu verlieren. Die Frau im Zug fandest du nur komisch an dem Tag. Eine armselige Kreatur, die eine teure Pflanze, wie die Linde, ihr Wasser in ihr Gesicht schmiert, an sich verschwendete… Keine Ahnung von Wahrheit und Wirklichkeit, ein Rosa Schatten nur, dessen Vergehen eine Frage des Augenblicks ist, indem die ernsten Farben deines Daseins ihre Schatten über sie werfen.)

In meinem Bewusstsein tauchen sie auf, wie die Schatten des Sonnenuntergangs, die entfernten Bilder, die so glänzen und doch so leicht wieder verschwinden. Ich liebe es allein zu reisen; die Gedanken und Erinnerungen gleiten im Bewusstsein leise und weich dahin, grenzenlos, wie die Steppe, die in den letzten Strahlen der Sonne ihre Härte ablegt… Ich fahre von Ankara nach Izmir, die Sonne geht unter, die Steppe ist rötlich Rosa… Die Nervenzellen meines Gehirns, das ich unter Kontrolle zu halten verzichtet habe, das ich von der Spaltung des Bewusstseins befreit habe, liefern sich ein Spiel. Man nennt das Assoziation. Das durchsickernde Licht der orangeroten Abendsonne, das an die reifen, honigsüßen Pfirsichen des Spätsommers erinnert, assoziiere ich mit einer schönen Frau. Eine Frau, in den mittleren Jahren, arm und reich zugleich, vor zehn Jahren im gleichen Zug, im Restaurant mir gegenüber saß, erfüllt von der Schönheit der 50-er Jahren, oder richtiger, von der Nostalgie ihrer eigene Jugend.

Ich erinnere mich an die 50-er. Wo ist unser Nachbar, Herr Abdülkadir geblieben, der sogar seine Rente zu holen sich stets ordentlich angezogen hat? Jene ernsten Bürokraten in den gebügelten Hemden… Alle wohlerzogenen Menschen… Bereits in den 50-er Jahren begannen sie auszusterben. Woher kamen die Menschenmassen, die Arabesk hören, sich vermehren und ausbreiten, wie eine ansteckende Krankheit.

In den 50-ern rührte sich ein Volk, das bis dahin am Boden geklebt lebte, und verlor seine Unwissenheit; es stürmte die Toren der Großstädte, wie ein junger Riese, bar jeglicher Erinnerung.

Mein Verstand springt von Punkt zu Punkt, wie ein Kind, das Tempelhupfen ohne Schale spielt, von den gebärenden Massen zu den sterbenden Individuen, von den “Bauunternehmern” zu “Pensionären”, von den “Gelehrten” zu den “Erleuchteten”…

Mein Bewusstsein ist geteilt; wie der eines Reisenden der einen Reisenden beobachtet, sich an ihn erinnert, ihn erträumt, folgert, kritisiert. Nein, nein, das Wort geteilt vermittelt nicht was ich sagen möchte. Mein Bewusstsein hat sich wie Quecksilber ausgebreitet zwischen all diesen Teilen, als ginge eine Anziehungskraft von ihnen aus, und fügt sich wieder zusammen zu einem Ganzen, das nicht fest ist, verteilt sich von Neuen und findet wieder zusammen.

Mittlerweile geht es mir gut…

Ich schloss die Tür hinter mir und ging, wie Nora. Ich verliebte mich wie Anna Karenina; aber ich nahm mir nicht das Leben, wie sie. Ich konnte mich wieder aufrichten, wie Ann Dubreuilh, als ich am Boden zerstört war. Ich ging auf Reisen, ich sah mir die Welt an; ich verlor gänzlich meine Unwissenheit. Und nur dann konnte ich wirklich verstehen, was ich bis dahin sah und gelesen habe. Nur dann konnte ich die kleingewordene Welt, die wohl oder übel über alles Bescheid weiß, die wie ich ihre Naivität eingebüßt hat, wirklich begreifen. Niemand mehr kann vorgeben seine Fähigkeit zu sehen beim blendenden Licht einer Atombombe verloren zu haben. Die erschaffenen Wertmaßstäbe gibt es nicht mehr. Der “Eiserne Vorhang” hinter dem schutzsuchend eine Pseudo-Naivität fabriziert werden könnte, ist gefallen. Zurückgeblieben sind Imperialismus und Hunger.

Als ich erlebt und begriffen habe, dass der Weg von der Kindheit zur Reife über die Stufen des Verlustes von Unwissenheit geht, begann ich erneut auf die Volksweise in meinem Inneren zu hören; ich kehrte zurück in die Steppe der halbhungrigen. Zusammen mit meiner Naivität legte ich die für meine Generation so typische, lächerliche Eitelkeit ab. Ich lernte sowohl Respekt vor den Kemalisten und den “47-ern” zu empfinden, als auch über sie zu lachen. Um das graue Andenken der 50-er band ich eine Schleife, in deren Rosa sich die Farben des Sonnenaufgangs mit denen des Unterganges mischen.

Jetzt bin ich zum ersten mal frei.